Estland: Für Deutschland das Vorbild bei der Digitalisierung?

Estland Vorbild

Seit Jahren kämpft Deutschland mit der Tatsache, dass es mit der Digitalisierung nicht so ganz klappen will. Da man das Rad nicht unbedingt neu erfinden muss, könnte sich Deutschland ein Beispiel an Estland nehmen. Denn der baltische Staat ist die Nummer 1 in Europa, wenn es um die Digitalisierung geht.

Der Antrag auf Ehescheidung dauert in Estland keine 60 Minuten

Gemeinsam mit der deutschen Friedrich-Naumann-Stiftung hat der ehemalige Chief Information Officer der estnischen Regierung, Luukas Ilves von der DW, die aktuelle Studie „Das Ende der Bürokratie“ erstellt. Dabei zeigt der Bericht ganz klar auf, was Deutschland von dem baltischen Staat alles lernen kann. Während 90 Prozent der Esten digitale Verwaltungsdienste nutzen, sind es in Deutschland gerade einmal 62 Prozent. Dabei ist die elektronische Verifizierung der Identität das zentrale Thema. In Estland nutzen 90 Prozent der Bevölkerung E-IDs, damit sie einen Zugriff auf staatliche Dienste haben. In Deutschland liegt der Anteil unter 10 Prozent. Ilves begründet das mit dem Umstand, dass die estnische Software benutzerfreundlich sei und den Zugang zu privaten wie öffentlichen Diensten ermöglicht, inklusive Zugriff auf das Online Banking.

Ein gutes Beispiel mag etwa der Bereich der Ehescheidung sein: Wer in Estland eine Ehescheidung einreichen möchte, kann das innerhalb von 60 Sekunden erledigen – dafür muss nicht einmal der Partner anwesend sein. „Es dauert nur 45 Sekunden, bis man im Online Antrag an den Punkt kommt, an dem man den Scheidungsantrag absenden kann“, weiß Ilves. Mit der Ehescheidung wurde der letzte Bereich der öffentlichen Verwaltung digitalisiert. Tatsächlich ist Estland das wohl erste Land, das vollständig digitalisiert ist. Nicht nur in Europa, sondern weltweit. Dass beide Partner dem Ehescheidungsverfahren zustimmen müssen, steht außer Streit. Auch ist es notwendig, dass beide Partner persönlich beim Standesbeamten erscheinen, wenn es um die formelle Beendigung der Ehe geht. Seit die E-Scheidungsplattform online ist, wurden bereits 60 Prozent der eingebrachten Scheidungen digital beantragen. „Wir erwarten von digitalen Diensten im privaten Sektor Bequemlichkeit, Einfachheit und Sicherheit. Warum sollten staatliche Dienste da anders sein“, so Ilves.

Benutzerfreundlichkeit als Schlüssel zum Erfolg

Das Thema Benutzerfreundlichkeit spielt auch in Belgien eine große Rolle: Laut Ilves hat Belgien bis vor ein paar Jahren mit einer E-ID-Technologie gearbeitet, die mit jener der aktuellen Technologie in Deutschland verglichen werden kann. Rund 10 Prozent der Belgier haben die Technologie verwendet – nachdem man sich dafür entschieden hat, auf eine benutzerfreundliche Version umzusteigen, ist die Nutzung auf 80 Prozent gestiegen. Auch deshalb, weil mit der neuen Version auch ein Zugriff auf staatliche und private Dienste zugleich möglich wurde.

Wenn zudem die Akzeptanz gegenüber digitalen Verwaltungsdiensten größer wird, dann hilft das auch bei den Einsparungen: So sind die Verwaltungskosten für die Steuererhebungen in Estland pro Kopf bei gerade einmal einem Sechstel verglichen mit den Kosten in Deutschland.

Wird das Digitalministerium für nachhaltige Veränderungen sorgen können?

Dass die neue deutsche Bundesregierung unter Kanzler Friedrich Merz ein Digitalministerium geschaffen hat, um ein umfassendes Dienstleistungsangebot zu schaffen, mag ein richtiger Schritt in die richtige Richtung sein. Das wird auch von Magdalena Zadara begrüßt, einer Vertreterin der Digitalwirtschaft, die Strategin und Stabschefin beim DigitalService des Bundes ist, einer Agentur des Staats, die die Digitalisierung von Verwaltungsprozessen vorantreiben soll. Zadara ist optimistisch, wenn es darum geht, dass das Ministerium Wege findet, damit es zur Verkürzung der deutschen Bürokratie kommt. „Wenn ich aus einem Nicht-EU-Land nach Deutschland komme und arbeiten will, habe ich mit fünf bis sieben verschiedenen Behörden zu tun, um mein Diplom anerkennen zu lassen – und sie würden vielleicht sogar dieselben Daten mehrfach abfragen“, so Zadara. Im estnischen Once Only-Prinzip – OOP – sieht sie die Lösung schlechthin: Bürger und Unternehmen müssten die Informationen nur einmal angeben, dann werden diese intern von allen Behörden weiterverwendet.

Tatsächlich stellt OOP den Grundpfeiler dar, wenn es um die digitale Verwaltung im baltischen Staat geht. OOP ist auch gesetzlich verankert. Auch die digitale Signatur ist ein weiteres Merkmal der modernen estnischen Verwaltung. Sie wird etwa zur Stimmabgabe bei nationalen Wahlen oder auch dafür verwendet, um den Arbeitsvertrag zu unterzeichnen.

Während in Deutschland der deutsche Glücksspielstaatsvertrag regelt, dass Live Casinos verboten, kann man in Estland sogar seine Stimme per digitaler Signatur abgeben. Der Glücksspielstaatsvertrag scheint durchaus ein gutes Beispiel zu sein, was in Deutschland mit Blick auf neue Technologien alles schief läuft – das erklärt auch, wieso es immer mehr Deutsche gibt, die gezielt nach Online Casinos suchen, die ohne OASIS auskommen, also keine deutsche Lizenz haben. Denn dadurch könne man vielen Einschränkungen entkommen.

Wie kann man von US Giganten unabhängig werden?

Bei der EU Kommission in Brüssel und in vielen anderen Ländern ist vor allem die Online Sicherheit ein großes Thema. Aus diesem Grund wird von der europäischen Tech-Industrie gefordert, man müsse die Abhängigkeiten von US Technologiegiganten verringern – sich also nicht in die Fänge von Amazon, Google oder Microsoft begeben. Man soll dahingehend auch nicht das Gesetz über digitale Märkte – DMA – verwässern, das als Schutz gegen deren Dominanz dienen soll. Des Weiteren fordert man den Aufbau eines EuroStack. Das soll die europäische Alternative sein, wenn es um die technologische Souveränität geht. EuroStack soll etwa Open Source-Ökosysteme, souveräne KI sowie grüne Supercomputer und souveräne Clouds umfassen.

Eine Initiative, die Luukas Ilves aber skeptisch sieht. Denn es könnten durchaus hohe Kosten anfallen, wenn man plant, das Rad in der Digitalisierung neu erfinden zu wollen. Vor allem, wenn man sich mit End to End-Anwendungen befasst. „Kein Land kann im digitalen Raum autark und vollständig souverän sein. In Estland haben wir nie einen vollständigen Estonia-Stack gebaut, sondern sehr spezifische Anwendungen und Protokolle auf dem globalen Technologie-Stack aufgebaut“, so Ilves. Zudem räumte er aber ein, Europa müsse sich stärker auf spezifische Risiken konzentrieren, die mit der Digitalisierung in allen möglichen Lebensbereichen einhergehen.

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